Diagnose Infantile Cerebralparese - und nun?

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Diagnose Infantile Cerebralparese - und nun?

Stand: 16.02.2023

Vielleicht bist Du hier gelandet, weil dein Kind die Diagnose Infantile Cerebralparese erhalten hat. Vielleicht suchst Du auch einfach nach Informationen zu diesem Thema. Im Folgenden erhältst du einen ersten Überblick und bekommst einige hilfreiche Informationen. Auch wenn jedes Kind ganz unterschiedlich ist, gibt es Merkmale, die häufig bei der Diagnose auftreten können. Außerdem bekommst Du auch ein paar Tipps, wie Du dein Kind unterstützen kannst.


Bildquelle: iStock.com/FatCamera

Falls es noch nicht lange her ist, dass Du diese Diagnose für dein Kind erhalten hast, empfehlen wir dir zu Beginn den Fachbeitrag "Diagnose Erstmitteilung - vom Suchen und Finden" zu lesen oder unser Video dazu auf YouTube anzuschauen. In diesen bekommst Du wertvolle Informationen und Hinweise zu den ersten Schritten nach einer Diagnosemitteilung. 

Infantile Cerebralparese – was ist das?

Die infantile Cerebralparese (lat. cerebrum: Gehirn, griech. parese: Lähmung, häufig abgekürzt mit ICP oder CP) ist eine Körperbehinderung, die durch einen frühkindlichen (infantilen) Hirnschaden verursacht wird. Eine infantile Cerebralparese kann als Bewegungsstörung beschrieben werden. Durch die Schädigung des Gehirns senden die betroffenen Zentren und Nervenbahnen zu viele oder zu wenige Signale an die Muskeln: Die Muskeln spannen sich zu sehr oder zu wenig an und ein harmonisches Zusammenspiel der Muskeln ist nicht mehr möglich. Die Bewegungsabläufe sind beeinträchtigt und die Bewegungsentwicklung verlangsamt.  

Die Häufigkeit einer ICP liegt bei 2-3 : 1000. Das bedeutet, dass bei 0,2 - 0,3 % der Neugeborenen eine ICP vorliegt.  Jungen sind etwas häufiger (55 - 66 %) betroffen als Mädchen.

Wie entsteht eine Cerebralparese?

Die Ursache liegt in der frühkindlichen Schädigung derjenigen Gehirnzentren, die die Bewegung steuern. Im Hinblick auf den Zeitpunkt kann diese Schädigung der Gehirnzentren schon während der Schwangerschaft, also noch vor der Geburt passieren (pränatal), während der Geburt (perinatal) und auch nach der Geburt (postnatal) auftreten.

Vor der Geburt kann eine Infektion den Hirnschaden verursachen, während der Geburt eine Geburtskomplikation, die einen Sauerstoffmangel oder eine Gehirnblutung nach sich zieht. Nach der Geburt können neben Infektionen und Entzündungen des Gehirns auch Schädel-Hirn-Verletzungen oder Sauerstoffmangelzustände eine ICP auslösen.

Eine besonders schwere Schädigung des Gehirns kann neben einer Körperbehinderung auch eine geistige Behinderung zur Folge haben.

Was bedeutet das für mein Kind?

Die Schädigung derjenigen Gehirnzentren die für die Motorik (Bewegungsabläufe) zuständig sind hat zur Folge, dass betroffene Kinder entweder zu viel Körperspannung haben (Hypertonie, z. B. bei einer Spastik) und dadurch die Muskeln verkrampfen oder, dass sie zu wenig Körperspannung haben (Hypotonie, z. B. bei Athetose und Ataxie, beide Begriffe werden weiter unten erklärt) und durch die schlaffen Muskeln z. B. Schwierigkeiten beim Sitzen haben. Das liegt daran, dass Gehirn und Muskeln nicht richtig zusammenarbeiten.

Das Gehirn sendet beispielsweise ein Signal an die Hand, dass diese sich zusammenziehen soll und die Hand zieht sich tatsächlich zusammen. Da die Nervenbahnen jedoch geschädigt sind erfolgt keine Rückmeldung an das Gehirn, die sagt, dass die Hand sich bereits zusammengezogen hat. Dadurch sendet das Gehirn weiterhin Befehle und die Hand zieht sich weiterhin zusammen (verkrampft).

Langzeitfolgen einer ICP können sein: Verformung von Knochen, Verkürzung der Sehnen, Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) oder verformte Hände und Füße. Diesen Langzeitfolgen kann durch entsprechende therapeutische und orthopädische Angebote entgegen gewirkt werden.

Formen der Cerebralparese

Je nach dem wo genau die Schädigung im Gehirn entstanden ist, gibt es verschiedene Formen der ICP:

Spastische Parese (Spastische Lähmung/Spastik)

Die spastische Lähmung ist gekennzeichnet durch einen Hypertonus der Muskulatur, d.h. eine zu hohe Muskelspannung. Um eine Bewegung koordiniert ausführen zu können, müssen die Tonusstärken der Beuger und Strecker (der beiden Muskelgruppen, die für eine Bewegung notwendig sind) adäquat gesteuert werden, was infolge der Hirnschädigung nicht mehr möglich ist: Beuger und Strecker werden nicht abgestimmt gesteuert, sondern gleichzeitig angespannt (in der medizinischen Fachsprache auch „pathologische Co-Kontraktion“ genannt).
Durch die Hypertonie der Muskeln wird eine Koordination verhindert, es kommt zu einer Einschränkung von Bewegungsmöglichkeiten mit der Folge von Muskelverkürzungen.

Es lassen sich dabei drei Formen der spastischen Lähmung unterscheiden:

  • Spastische Diparese 
    Die spastische Diparese (auch Diplegie genannt) ist gekennzeichnet durch eine Einschränkung zweier Extremitäten (in der Regel der Beine, selten der Arme). Diese symmetrische Bewegungsstörung macht es dem Kind schwer laufen zu lernen. Im Sitzen ist die Hüftbeugung beeinträchtigt, deshalb wird von den Kindern gerne der bequemere Zwischenfersen-Sitz eingenommen, der jedoch für den Rundrücken zusätzlich belastend sein kann.
     
  • Spastische Tetraparese 
    Bei einer spastischen Tetraparese (auch Tetraplegie genannt) sind alle vier Extremitäten und mehr oder minder die Muskulatur des ganzen Körpers betroffen. Die Oberarme sind meist an den Körper gedrückt, der Arm ist im Ellenbogengelenk gebeugt, der Unterarm einwärtsgedreht, die Hand zu einer Faust geschlossen und der Daumen eingeschlagen. Die Beine sind gestreckt und einwärtsgedreht bei gleichzeitiger Überstreckung der Hüfte und einer Spitzfußstellung. Diese Einschränkung führt meist zu einer schweren Körperbehinderung, die teilweise auch eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten zur Folge hat. Auch kann es zu epileptischen Anfällen und Schielen kommen. Viele Kinder mit spastischer Tetraparese haben auch einen verminderten Kopfumfang (Mikrocepahlie).
     
  • Spastischen Hemiparese
    Die spastische Hemiparese (auch Hemiplegie genannt) ist eine Halbseitenlähmung. Es gibt eine beeinträchtigte und eine unbeeinträchtigte Körperhälfte. Die Arme sind häufig stärker betroffen als die Beine. Die Kinder lernen in der Regel das Laufen, wenn auch mit einem verkürzten, vermindert tragfähigen Bein und oftmals einer Schiefhaltung des ganzen Körpers. Auch hier lässt sich wie bei der spastischen Tetraparese eine typische Haltung der Kinder beobachten: Die Oberarme sind meist an den Körper gedrückt, der Arm ist im Ellenbogengelenk gebeugt, der Unterarm einwärtsgedreht, die Hand zu einer Faust geschlossen und der Daumen eingeschlagen. Die Beine sind gestreckt und einwärts gedreht bei gleichzeitiger Überstreckung der Hüfte und einer Spitzfußstellung

Die Athetose (Dyskinesie)

Während die spastische Lähmung die Bewegungen einschränkt, führt die Athetose paradoxerweise zu einer Übersteuerung des Bewegungssystems. Bei grundsätzlich eher schlaffem Muskeltonus (Muskelspannung) kommt es häufig zu einem unregelmäßigen und unwillkürlichen Wechsel (Dystonie) der Muskelspannungen aus hypotonem (schlaffem) und hypertonem (übersteigertem) Muskeltonus. Dadurch kommt es bei den betroffenen Kindern zu ständigen schwer kontrollierbaren, oft geschraubten und für den Betrachter ungewohnt wirkenden Bewegungen. Besonders betroffen sind Hände und Füße: Symmetrisches Greifen ist häufig unmöglich, einhändiges Greifen schwierig, denn durch die ansteigende Muskelspannung beim Zugreifen verstärkt sich die Beugung, und der Arm zieht die Hand zurück.

Kinder mit Athetose können Aussprachestörungen (Dysarthrien), Schluckstörungen und ungewollte Blickwendungen haben, die das Fixieren auf einen Punkt (z. B. beim Lesen) erschweren. Das Erlernen des Laufens ist auch bei leichter Ausprägung durch Sturzgefahr erschwert.

Die Ataxie (ataktische Cerebralparese)

Bei der Ataxie sind das Kleinhirn und seine Nervenbahnen geschädigt. Dadurch entstehen Störungen bei der Gleichgewichtserhaltung und bei der Abstimmung von Bewegungen. Kinder mit einer ataktischen Cerebralparese fallen durch einen sogenannten „gestelzten Gang“ auf. Aufgrund der Übersteuerung im Zentralnervensystem kommt es, ähnlich wie bei der Athetose, zu einer für das Kind sehr erschwerten Bewegungskoordination. Die Ataxie und Athetose sind im Erscheinungsbild häufig sehr ähnlich.
 

Viele Kinder zeigen auch Mischformen der ICP. Besonders häufig sind hier Mischformen aus Spastizität und Athetose sowie Spastizität und Ataxie.

Was können Eltern tun?

Die Schädigung des Gehirns kann nicht rückgängig gemacht werden, aber durch verschiedene Therapiemöglichkeiten können die Auswirkungen der ICP gut behandelt werden.

Die Therapie bei einer Cerebralparese richtet sich dabei ganz nach der Art und dem Ausmaß der Körperbehinderung. In der Praxis haben sich vor allem physiotherapeutische Verfahren nach Bobath und nach Vojta sowie Methoden der manuellen Therapie bewährt. Das Kindernetzwerk e.V. und auch der Verein Schritt für Schritt e.V. – Hilfe für Hirnverletzte empfehlen die konduktive Förderung nach Petö. Hier werden, orientiert am Alltagsleben, pädagogische und physiotherapeutische Aspekte kombiniert. Im Rahmen einer ganzheitlichen Förderung sollen die Kinder zu größtmöglicher Selbständigkeit befähigt werden. 

Eine logopädische Förderung kann bei Ernährungsschwierigkeiten oder zur Anbahnung und Unterstützung der Sprachentwicklung hilfreich sein. Auch orthopädische Maßnahmen spielen eine große Rolle, um Verformungen der Knochen vorzubeugen. Verschiedene Medikamente können die Spastik positiv beeinflussen. Hier hat sich die Anwendung von Botulinum-Toxin (Botox) als besonders wirksam und hilfreich erwiesen. Das Medikament wird in betroffene Muskelgruppen injiziert und sorgt dafür, dass die Muskelspannung dieser Muskel für etwa 3 bis 4 Monate deutlich reduziert wird. Danach muss die Behandlung wiederholt werden. Weitere Informationen zur Wirkungsweise des Medikaments erhältst Du in unserem Fachbeitrag zum Thema “Botulinumtoxin”.

Eine weitere Anlaufstelle für Therapie und Förderung ist die Frühförderstelle oder das sozialpädiatrische Zentrum, deren Adressen der Kinderarzt vermitteln kann (für Bayern findest Du diese auch in unserer Datenbank). Dort werden dann gemeinsam mit dir als Elternteil und einem Team aus Fachleuten passende Therapie- und Fördermöglichkeiten gefunden. Ziel dabei sollte es immer sein, dem Kind zu ermöglichen, seinen Alltag selbstbestimmt zu meistern.

Es gibt noch viele weitere Therapie- und Fördermöglichkeiten, die für ein Kind mit infantiler Cerebralparese hilfreich sein können. Fachleute können dir hilfreiche Tipps und Tricks an die Hand geben, wie Du als Elternteil euren Alltag so gestalten kannst, dass sich dein Kind wohlfühlt und gut entwickelt.

Nimm hilfreiche Ratschläge an, aber traue dich auch, deiner eigenen elterlichen Intuition zu folgen. Schließlich kennst Du dein Kind am besten.

Wo finde ich Hilfe? 

In Deutschland kannst Du dich vor allem auf den Internetseiten des Vereins Schritt für Schritt e.V. – Hilfe für Hirnverletzte informieren. Hier findest Du auch ausführliche Informationen zur konduktiven Förderung nach Petö. Auch bei der Stiftung ICP München findest Du zahlreiche Informationen. Der Förderverein rege e.V. dient als Forum für Betroffene, Eltern, Ärzte und Therapeuten. Auch die Vereinigung der Bobath-Therapeuten Deutschlands e.V. möchten wir dir empfehlen, da Du dich hier ausführlich über das Bobath Konzept informieren kannst. 

Weiterführende Informationen
Quellenverzeichnis
  • Heubrock, D. & Petermann, F. (2000). Lehrbuch der Klinischen Kinderneuropsychologie. Grundlagen, Syndrome, Diagnostik und Intervention. Hogrefe Verlag.
     
  • Kallenbach, H. (2000). Infantile Cerebralparese (ICP) – frühkindliche cerebrale Bewegungsstörungen. In: Kallenbach, H. (Hrsg.): Körperbehinderungen. Schädigungsaspekte, psychosoziale Auswirkungen und pädagogisch-rehabilitative Maßnahmen. Klinkhardt.
     
  • Leyendecker, C. (2005). Motorische Behinderungen. Grundlagen, Zusammenhänge und Förderungsmöglichkeiten. Kohlhammer.
     
  • Liebsch, R. (2001). Neurologie, (2. Aufl.). Urban & Fischer.
     
  • Loh, S. von (2003). Entwicklungsstörungen bei Kindern. Kohlhammer.
     
  • Stadler, H. (2000). Körperbehinderungen. In: Borchert, J. (Hrsg.): Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie. Hogrefe.
     
  • Weiß, H.; Neuhäuser, G. & Sohns, A. (2004). Soziale Arbeit in der Frühförderung und der Sozialpädiatrie. Reinhardt.
     
  • http://www.kindernetzwerk.de/images/Krankheitsuebersichten/Krankheitsuebersichten-cerebralparese.pdf
Bildquellen