Diagnose Miller-Dieker-Lissenzephalie - ein Beitrag von Yvonne Dinger

Liebe Eltern,

in diesem Gastbeitrag geht es um das Thema Diagnose Miller-Dieker-Lissenzephalie.

Herzlichen Dank an Yvonne, die als Mutter einer Tochter mit dieser Diagnose hier ihre Erfahrungen mit uns teilt. Der Austausch gerade in der Schwangerschaft und am Anfang einer Diagnose kann helfen.

Die Diagnose Miller-Dieker-Lissenzephalie

„Wenn Ihr Kind die Geburt und das erste halbe Jahr überleben wird, wird es nichts können. Es wird nicht hören, nicht sehen, nicht alleine atmen und wird teilnahmslos mit gefausteten Händen zur Decke starren. Es wird nicht älter als zwei oder drei Jahre werden.“ So lautete die Prognose der Pränataldiagnostik in der ungefähr 30. Schwangerschaftswoche mit unserer Tochter. Ich galt als Risikoschwangere, da ich bereits ein Kind in der Frühschwangerschaft verloren und das 35. Lebensjahr schon überschritten hatte. Schon einige Auffälligkeiten hatten mich durch diese Schwangerschaft begleitet. Die Gehirnwindungen bilden sich üblicherweise erst ab etwa der 26. Schwangerschaftswoche aus, daher konnte man diese Agyrie – so der Fachbegriff für das Fehlen der Gehirnwindungen – , die sich postnatal auch wirklich bestätigt hat, nicht früher erkennen.


Bildquelle: Matthias Schmidt, Bamberg.

Mein Mann und ich haben uns – entgegen der Empfehlung des Pränataldiagnostikers und der Genetikerin – gegen ein fetales MRT entschieden und wollten unsere Tochter selbst bestimmen lassen, wie und ob sie sich ein Leben vorstellen kann. Sie wurde im Dezember 2010 in der 38. Schwangerschaftswoche als Steißlage per Kaiserschnitt geboren und hatte nach anfänglich guten AGPAR-Werten doch ein paar Anpassungsschwierigkeiten.

Ihre Temperatur konnte sie nach kurzer Zeit selbst halten, die Nasensonde, über die sie mit meiner fleißig abgepumpten Milch ernährt wurde, konnte noch in der Klinik gezogen werden. Stillen klappte leidlich bis gar nicht, aber das Trinken an der Flasche hat sie irgendwann ausreichend gelernt, um sich immerhin ein Jahr und neun Monate selbst zu ernähren. Selbst eine Beikosteinführung war möglich, wenn auch nur kurzzeitig von Erfolg gekrönt. Nach einem halben Jahr trat die gefürchtete Epilepsie zum ersten Mal in Erscheinung. Mit ihr kamen Medikamente, die wir dummerweise mit einem Löffel verabreicht haben. Niemand hat daran gedacht, orale Spritzen zu verwenden, wir wussten es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht besser und haben uns natürlich auf das Klinikpersonal verlassen. Unsere Tochter hat von dem Zeitpunkt an feste Nahrung verweigert. Sie hat vermutlich den Löffel mit etwas richtig Ekligem assoziiert. Also sind wir wieder auf die Flasche ausgewichen und Folgemilch.

Jede Impfung war ein Rückschritt, was das Trinken anging, und so haben wir im August 2012 schweren Herzens beschlossen, einer PEG-Anlage zuzustimmen. Fortan wurde sie über die Magensonde ernährt, orale Nahrungsaufnahme fand nur noch als Kostprobe statt. Ich hatte leider sehr lange Zeit das Gefühl, als Mutter versagt zu haben, weil es mir nicht gelungen war, sie „normal“ zu ernähren. Dass das Blödsinn ist, weiß ich natürlich inzwischen, dass ich mit diesen Gefühlen in zahlreicher Gesellschaft bin, weiß ich allerdings auch.

Irgendwann konnte ich dem Übel etwas Gutes abgewinnen und machte eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin mit Schwerpunkt Sondenberatung. Somit vereine ich Theorie und Praxis und kann anderen Familien dabei helfen, von klassischer Sondenkost auf Normalkost für die Sonde umzusteigen.

Die ursprüngliche Lebenserwartung von maximal drei Jahren hat unsere Tochter inzwischen weit übertroffen. Im Jahr 2025, in dem dieser Beitrag entsteht, ist sie bereits über 14 Jahre alt. Viele Diagnosen, die eine Miller-Dieker-Lissenzephalie (Unterform der Lissenzephalie Typ I) mit sich bringt, wenn man Wikipedia bemüht, sind ihr leider nicht erspart geblieben. Sie hat eine Corpus callosum Agenesie (Teile des Balkens, der die rechte und die linke Gehirnhälfte verbindet, sind nicht vorhanden), sie hat eine therapieresistente Form der Epilepsie, ein so genanntes West-Syndrom. Auch drei Antikonvulsiva und Cannabidiol können nicht verhindern, dass sie eigentlich täglich krampft.

Mit den Jahren hat sie ausgeprägte Myoklonien entwickelt, die zerebral bedingt sind, aber keine epileptische Tätigkeit darstellen. Durch viele Aspirationspneumonien, die ihrer schweren Schluckstörung geschuldet sind, ist die Lunge sehr geschädigt. Sie braucht seit Jahren Sauerstoffunterstützung nachts, seit etwa drei Jahren über einen Highflow. Ein Hustenassistent hilft dabei, das Sekret aus den Bronchien zu mobilisieren. Sie wird nachts über einen Monitor, ein Babyphone mit Kamera und einen Epilepsiemonitor überwacht. Regelmäßige Inhalationen gehören genauso zu unserem Tagesablauf wie diverse Therapien, für die wir angeleitet wurden im Laufe der Jahre.

Unsere Tochter benötigt viele Hilfsmittel, da sie nicht alleine frei sitzen kann. Zu Hause hilft ihr ein Therapiestuhl, immer bei uns sein zu können, für den Einsatz draußen steht ein Rollstuhl mit Outdoorausrüstung zur Verfügung. Ein Stehständer hilft, die aufrechte Haltung zu trainieren. Das ist wichtig für Lungenfunktion, Verdauung und die Gelenke. Sie benötigt einen Toilettenstuhl und eine Badeliege, für den Transfer im Haus haben wir einen Lift zwischen Erdgeschoss und erstem Stock einbauen lassen. Sie ist also immobil, nonverbal, hör- und sehbehindert und hat eine schwere Schluckstörung.

Unser Leben ist sehr beschwerlich und voller Sorge. Im Laufe der Jahre haben wir aber gelernt, Anzeichen für drohende Probleme immer schneller zu erkennen, Probleme frühzeitig zu beheben. Der Pflegedienst, der uns wegen Personalmangels leider immer weniger unterstützen kann , ist Teil unseres Alltags. Privatsphäre gibt es damit nicht an allen Tagen. Auf die Hilfe sind wir aber dringend angewiesen.

Dass unsere Tochter gar nichts kann, wie man uns das in der Schwangerschaft prognostiziert hatte, ist schlichtweg falsch. In erster Linie kann sie Menschen um den kleinen Finger wickeln wie niemand sonst. Sie kann unwahrscheinlich niedlich gucken und wenn es ihr gut geht, ist sie ein fröhliches Mädchen. Sie ist sehr empathisch, überhaupt nicht nachtragend und kann sehr geduldig sein. Ja, sie kann unmissverständlich mitteilen, wenn etwas nicht passt. Es gibt viele Phasen, in denen sie sehr müde wirkt und teilnahmslos. Häufig ist das einer Reizüberflutung geschuldet, die sie geschickt kompensiert, indem sie sich einfach durch „Augen zu“ aus der Situation nimmt.

Wir haben viel gelernt von unserer Tochter und durch unsere Tochter. Es ist durchaus möglich, auch mit einem so schwer betroffenen Kind Spaß zu haben, das mit einem GdB von 100 und einem Pflegegrad 5 als schwerstbehindert bezeichnet werden muss.

Unsere Tochter besucht mit großer Begeisterung eine Förderschule mit Schwerpunkt geistige Entwicklung. Sie genießt den Kontakt zu anderen Kindern, nimmt ihre Therapien gerne wahr und beteiligt sich mit Hilfe ihrer Schulbegleitung nach ihren Möglichkeiten am Unterricht. Darf sie nicht zur Schule fahren, weil keine Schulbegleitung eingeteilt werden konnte, ist sie unausgelastet und nicht immer gut gelaunt. So, wie man das von einem Teenager erwartet.

In der Schwangerschaft hätten wir uns Kontakt zu anderen betroffenen Eltern gewünscht, der leider nicht ohne weiteres zustande kommen konnte. Wir haben daher irgendwann beschlossen, dass mein Blog, den ich irgendwann eher zufällig begonnen hatte, unsere Tochter auch zeigen soll. Andere betroffene Eltern sollen sehen, wie ein Kind mit Miller-Dieker-Lissenzephalie aussieht, welche Herausforderungen dieses Kind und seine Familie zu meistern haben und wieviel Freude am Leben es hat. Nicht nur einmal war unsere Tochter wirklich schwer erkrankt. Sie hat jedes Mal beschlossen zu kämpfen. Ich bin sehr dankbar, dass sie noch bei uns ist. Andere Eltern dürfen mich jederzeit kontaktieren für Fragen rund um die Erkrankung, mögliche Therapieansätze, Hilfsmittel etc.

Verfasserin: Yvonne Dinger (August 2025)

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