Inklusive Welten oder ein Leben in der Realität - ein Beitrag von Kirsten Simon

Am 05.Juli 2023 erhielt Kirsten Simon den Bayerischen Verdienstorden für ihr enormes soziales Engagement. Eine besondere Ehre, zumal die Zahl der höchsten Auszeichnung des Freistaates Bayern auf 2000 lebende Trägerinnen und Träger begrenzt ist. Seit mehreren Jahrzehnten ist Frau Simon unter anderem beim Familienbund der Katholiken in der Diözese Würzburg für die Selbsthilfeplattform intakt.info und bei der Lebenshilfe Aschaffenburg aktiv. Die gelernte Industriekauffrau ist selbst Mutter eines Kindes mit Behinderung und setzt sich in ihrem Engagement für Menschen mit Behinderung und deren Angehörige in der Gesellschaft ein. Deshalb ist ihr folgender Beitrag, auch in Anbetracht des aktuellen Zeitgeschehens, ein besonderes Anliegen.


Inklusive Welten oder ein Leben in der Realität

Der akute Fachkräftemangel ist in aller Munde. Wir beschäftigen uns damit, weil uns dieser Mangel in vielen Bereichen unseres Lebens tangiert. Wir ärgern uns, dass man so lange auf freie Termine bei den Handwerkern warten muss, dass sich die Lieferzeiten für Waren immer weiter nach hinten verschieben und wundern uns öfter mal über die leeren Regale im Supermarkt. Die Oma meinte neulich, dass in ihrem Altenwohnheim immer mehr Zimmer gar nicht mehr besetzt würden und es sei recht ruhig geworden. Von anderen hört man immer wieder, dass es wohl besser sei, nicht krank zu werden oder am Ende auch noch in ein Krankenhaus zu müssen. Es solle dort schrecklich zugehen. Dazu werden wir täglich mit teilweise beunruhigenden Nachrichten konfrontiert. Krieg in Europa, Teuerungsrate, Inflation, nicht zu vergessen der Dauerbrenner Heizung. Irgendwie scheint die Welt durch die Corona Krise aus den Fugen geraten zu sein. Eigentlich, so meint man, sei doch aber alles wieder wie zuvor. Man kann wieder raus, unter Leute gehen, Konzerte besuchen und sich mit Freunden und der Familie treffen. Gut, in der Stadt stehen viele Geschäfte leer, aber insgesamt geht es uns doch wieder gut. Nein, ein Trugschluss. Zumindest nicht für alle Personengruppen. Denn z. B. verzweifeln gerade Eltern und Angehörige von erwachsenen Kindern mit Behinderung oder auch von Kindern mit hohem Hilfebedarf gerade zusehends. Mit Corona verschwanden ihre Gesichter und ihre Stimmen verstummten schlagartig. Sie wurden einfach mit ihren Sorgen und Nöten vielfach vom System übersehen oder nicht mehr wahrgenommen. Der Fachkräftemangel im pflegerischen und Betreuungsbereich hatte sich bereits vor Corona abgezeichnet. Die Pandemie mit ihren Auswirkungen auf das Personal in der Pflege hat das Problem am Ende nur gepusht. Wie man im Main Echo vom 30.06.2023 lesen konnte, kämpfen nun bereits in Unterfranken Eltern von erwachsenen Kindern mit höherem und hohem Hilfebedarf um das Überleben einer Wohneinrichtung. Sind wir schon am Ende angekommen oder wird sich die Behindertenhilfe bewähren können? Ich gehöre zu diesen verzweifelten Eltern, denn mein Sohn Stefan, 32, mit einem hohen Hilfebedarf, ist einer der Bewohner der betroffenen Einrichtung. Eine Einrichtung, für die ich als Teil einer Initiative vor über 15 Jahren vehement gekämpft habe, dass sie im Rahmen der Eingliederungshilfe mit einem Recht auf einen 2. Lebensbereich erbaut wurde. Die BewohnerInnen sind ein Teil unserer Gesellschaft und möchten teilhaben können. In einer reinen Pflegeeinrichtung, also einer Finanzierung über die Pflegekasse mit einem Versorgungsvertrag, wäre es so wie in einem Altenpflegeheim. Hier handelt es sich aber überwiegend um noch junge Erwachsene mit einem Recht auf Förderung durch pädagogische MitarbeiterInnen. In der Stadt und im Landkreis Aschaffenburg gibt es zurzeit keine Alternative, nur eine lange Warteliste.

Wie ein Damokles Schwert schwebt nun die drohende Kündigung über den Köpfen von uns Eltern und Angehörigen und unserer zu Betreuenden, die bisher in der Wohneinrichtung mit 24 Plätzen in Aschaffenburg leben. Auch ein Grund, warum gerade in diesem Bereich ein ausgeprägter Fachkräftemangel vorherrscht, ist die Separierung von Menschen mit hohem Hilfebedarf, die überwiegend auch nicht-sprechend sind. Eine Herausforderung an das Personal, da man die BewohnerInnen sehr gut kennen sollte, eine gute Einarbeitung zwingend erforderlich ist, aber durch die hohe Fluktuation eigentlich unmöglich ist. Die Wohneinrichtung ist seit 10 Jahren für viele der BewohnerInnen das Zuhause. Ein Nottreffen mit Eltern und Angehörigen im Mai brachte die dramatische Lage auf den Punkt. Wir wurden von einem Notfallplan unterrichtet. Man würde einige BewohnerInnen in ein anderes Wohnheim verlegen und wenn möglich, solle man seine Angehörigen großzügig, bis ganz nachhause holen. Sollte sich die Personalsituation bis September 2023 nicht bessern, würde es zur Kündigung einiger der vorgehaltenen Wohnheimplätze kommen. Was bedeutet das für Eltern und Angehörige, die einen Großteil ihres Lebens für ihre Kinder alles möglich gemacht und selbst auf vieles, also auch auf ein normales Leben verzichtet haben? Jetzt im Alter, teilweise auch selbst pflegebedürftig, mittlerweile auch bereits alleine in der Sorge, weil der andere Elternteil verstorben ist oder auch Angehörige, die sich der Sorge angenommen haben. Oftmals ist es nur eine kleine Rente, denn neben der Pflege war kein zweiter Verdienst möglich. Bevor das Pflegegeld 1994 eingeführt wurde, gab es kaum zusätzliche Hilfen und meist floss das ganze Einkommen in die Pflege und Betreuung. Was hinzu kommt und was ein ganz einschneidender Schritt ist: Für Eltern, die endlich das Vertrauen und das Loslassen geschafft hatten, bricht ein System augenscheinlich zusammen. Wunden werden wieder aufgerissen, Angst, dass alles wieder von vorne anfangen muss und dazu die verstörten Menschen, die gar nicht wissen, warum und was um sie herum geschieht. Ein Bewohner ist mittlerweile bereits verstorben. Wohin mit diesen hilflosen Menschen? Ist es nicht die Aufgabe unseres Staates und unserer Gesellschaft, auch für diese Menschen bis an ihr Lebensende zu sorgen?

Seit 78 Jahren brauchen sie keine Angst mehr vor Vernichtung zu haben, müssen von ihren Eltern nicht mehr versteckt werden und Dank Tom Mutters, dem Gründer der Lebenshilfe in Deutschland, wurden ihnen immer mehr Rechte zugebilligt. Mit Hilfe von starken und immer stärker werdenden Eltern, die gemeinsam mit der Fachlichkeit, viele Steine aus dem Weg räumten und Mauern zum Einsturz brachten, sind wir in dem Zeitalter der Inklusion und Teilhabe angekommen.

Es geht nicht darum, dass man sein Kind loswerden möchte. Es geht eher darum, dass man selbst weiß, wann man nicht mehr allem gerecht werden kann. Wenn man nicht mehr immer nur parat stehen möchte, weil man selber in all den Jahren über das eigene Limit hinausgegangen ist. Weil man nicht wie bei einer normalen Entwicklung an dem Punkt angekommen ist, dass das Kind erwachsen und ein neuer Lebensabschnitt beginnen kann. Nein, er beginnt nicht, denn es hört nie auf. Wir werden immer wieder daran erinnert, dass wir vom System abhängig sind, dass wir alle 6 Monate neu Unterlagen zum Überprüfen des Anspruchs auf Grundsicherung darlegen müssen, dass wir jedes Jahr neu Anträge stellen müssen, wollen wir Entlastungsleistungen über die Pflegekasse beziehen. Dass wir nicht den Traum einer Zeit nach der Erwerbstätigkeit vor uns haben, sondern dass wir nicht immer diesen Abschnitt im Leben genießen können. Dieses „Jetzt denke ich mal an mich“. Nein, das gibt es nicht für Eltern von Kindern mit hohem Hilfebedarf, denn unsere Kinder sind hilflos und permanent auf unsere Unterstützung von außen angewiesen. Wie jetzt auch in diesem vorliegenden Fall. Wir bleiben bis zum letzten Atemzug in einer großen Verantwortung. Vor über 30 Jahren habe ich mal in einem Buch den Satz gelesen: „Ich möchte einen Tag nach dir sterben!“ Die Frage nach dem „Warum“ habe ich für mich geklärt. Möchten wir das aber wirklich? Stellt sich nicht eher die berechtigte Frage, für die wir uns auch nicht schämen müssen, ob wir nicht auch das Recht haben, mit der Rente noch einmal ein Leben führen zu dürfen, ohne permanent in einer 24 Stunden Bereitschaft leben zu müssen? Eigentlich ist es auch das Recht auf Freiheit. Für diese hohe Gut der Freiheit müssen wir im eigenen Land aber zunehmend kämpfen und momentan sieht es aus, als ob wir diesen Kampf nicht, oder nur bedingt noch gewinnen können.

In eigener Sache:

Die Wohngemeinschaft des St. Josefs Stifts Eisingen in Aschaffenburg für BewohnerInnen mit hohem Hilfebedarf sucht händeringend Personal. Die hohe Abwanderung hat den Betrieb lahmgelegt. Ja, es ist kein leichter Job, denn Schichtdienste und Zwischendienste sind genauso Voraussetzung wie ein wechselnder Dienst am Wochenende. Daneben ist auch eine Nachtbereitschaft im Haus zu absolvieren. Es handelt sich bei der Einrichtung um ein Wohnheim auf Basis der Eingliederungshilfe. Das bedeutet, dass die Betreuung überwiegend durch Personal aus dem pädagogischen Bereich und Nicht-Fachkräften durchgeführt wird.

Das Haus besteht aus drei Wohngruppen mit je 8 BewohnerInnen, aufgeteilt auf drei Stockwerke.

Es gibt sie, die Menschen wie mein Sohn Stefan und sie haben ebenfalls ein unantastbares Recht auf ein gutes Leben. Wenn es dem St. Josefs Stift wieder gelingt ein gutes Team zusammenzustellen, also ein Team, das sich gegenseitig motiviert, voll Empathie ist und auch Wochenendschichten in das eigene Leben einplanen kann, dann kann es auch für Stefan und seine MitbewohnerInnen wieder weiter gehen.

Wer sich informieren möchte, kann dies gerne auf der Seite des St.Josefs Stift unter www.josefs-stift.de tun. Auch kann man sich telefonisch unter 06021/592 634 nach den freien Stellen informieren. Ganz sicher würden sich die verbliebenen MitarbeiterInnen freuen, wenn sich BewerberInnen einfinden und einfach mal reinschnuppern und Interesse zeigen. Man kann das Wohnheim sicher nicht von 0 auf 100 wieder hochfahren, aber mit genügend BewerbererInnen einen guten Neustart anstreben. Das ist meine und Stefans persönliche Meinung! Man muss sich nicht alles schlecht reden lassen. Gute Arbeit von Personal mit Empathie, kann auch eine Erfüllung im Leben sein. Fakt ist auch, nur wenn es genug Personal gibt, kann auch entsprechend der Ausbildung gearbeitet werden und es kommt zu keinem Frusterlebnis.

Ich würde mich persönlich sehr freuen, wenn die Wohngemeinschaft meines Sohnes noch eine Zukunft vor sich hat.

Herzlichen Dank

Kirsten Simon

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