Persönliche Assistenz als Weg zur Inklusion - ein Beitrag von Julian

Heute kommt der nächste Gastbeitrag. In diesem Gastbeitrag geht es um das Thema Inklusion und Persönliche Assistenz als ein Weg dorthin. Unser Autor gibt einen Einblick in seinen Alltag mit Persönlicher Assistenz, schreibt über seine Gedanken zum Thema Inklusion und wie die Persönliche Assistenz ein Weg sein kann, um Inklusion möglich zu machen.

Die Gastbeiträge sollen wie unsere Interviews Mutmacher sein und Lebenswege aufzeigen.

Durch ihre Erfahrung und ihre ganz individuellen Entscheidungen sind Eltern und Selbstbetroffene nicht nur Helfer und Ratgeber in herausfordernden Situationen, sondern auch Mutmacher dafür den eigenen Weg zu finden.

Persönliche Assistenz als Weg der Inklusion

Mein Assistent sitzt im Zuschauerraum des Verhandlungssaals im Würzburger Landgericht. In einer Verhandlungspause wird er von anderen Zuschauern angesprochen und gefragt, wer er sei und weshalb er das Nebenzimmer betrete, in welchem sich die Richterin und die beiden Schöffen beraten. Als er antwortet, dass er der Assistent des Schöffen im Rollstuhl sei und dass ich in der Pause Handreichungen und ein Glas Wasser benötige, erntet er Respekt und Anerkennung. Ein Justizbeamter sagt ihm, es sei „ein tolles Signal“, dass ein Mensch mit einer so schweren Behinderung ein solch verantwortungsvolles Amt für die Gesellschaft ausübe.

Als mein Assistent mir das hinterher erzählt, wird mir bewusst, dass Inklusion nicht nur für die Menschen mit Behinderung ein wichtiger und erstrebenswerter Prozess ist, sondern vor allem auch für die Menschen ohne Behinderung. Durch jeden Kontakt mit einem behinderten Menschen lernen sie, in diesem nicht nur Defizit, sondern Potenzial zu sehen und ihn dadurch als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft wertzuschätzen. Finden diese Kontakte nicht statt, wird die Inklusion ausgebremst. Und mir wird auch klar, dass es die persönliche Assistenz ist, die mir den Schöffendienst erst möglich macht und die letztlich auch dem Justizbeamten und allen Prozessbeteiligten die Erfahrung der Begegnung mit mir ermöglicht. Würde ich in den festen Strukturen eines Wohnheims und unter dem dort üblichen Personalschlüssel leben, könnte ich nicht so einfach aktiv sein und solche Ehrenämter wahrscheinlich gar nicht bekleiden.

Es ist bedauerlich, dass auch in Deutschland nur wenige Menschen mit Behinderung ein so selbstbestimmtes Leben wie ich führen können und die meisten sich nicht in einer so glücklichen Position befinden wie ich. Ja, ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben. Meine Eltern waren schon in den Achtzigern, als mein Bruder und ich mit einer spinalen Muskelatrophie geboren wurden, Befürworter der Inklusion – damals noch „Gemeinsam leben, lernen und arbeiten“ genannt. Auch wenn wir bereits mit drei Jahren im Elektrorollstuhl saßen, auch wenn unsere Muskulatur genetisch bedingt fortschreitend abbaut, auch wenn eine nicht-invasive Beatmung bei uns bereits nach der Grundschule erforderlich wurde, waren sie strikt dagegen, uns in Sondereinrichtungen beschulen oder gar unterbringen zu lassen und haben zahlreiche Kämpfe dafür ausgetragen, dass wir in Kindergarten, Grundschule, Gymnasium und Studium einen komplett inklusiven Weg gehen konnten.

Mit dieser Grundeinstellung und unendlichem Engagement haben sie auch den Weg der Persönlichen Assistenz geebnet. Während uns in der Schulzeit noch unsere Klassenkameraden bei allen Handreichungen zur Seite standen, haben wir ab dem Studium Schritt für Schritt immer mehr Assistentinnen und Assistenten beschäftigt und ab 2009 mit dem Persönlichen Budget finanziert. Seit 2011 sind die (wohlgemerkt ungelernten) Assistenzkräfte im sogenannten Arbeitgeber-Modell bei mir angestellt.

Selbstverständlich ist es auch möglich, die Assistenzkräfte bei einem Pflegedienst/Assistenzdienst anzustellen, der den Großteil der Organisation und damit auch der Verantwortung übernimmt. Zahlreiche Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer nutzen diese Herangehensweise und immer mehr separate Assistenzdienste entwickeln sich in deutschen Städten. Betroffenen, die zunächst nur stundenweise Unterstützung im Haushalt, in der Freizeit oder in der Pflege benötigen, rate ich, als ersten Schritt Pflegegeld oder Sachleistungen der Pflegekasse in Anspruch zu nehmen und die Verhinderungspflege auszuschöpfen. Diese ist eine einfach zu handhabende Methode und dadurch eine gute Möglichkeit, um sich auch an die externe Unterstützung und das Leben mit einer fremden Person zu gewöhnen. Denn natürlich ist das Leben mit Assistenz ein Lernprozess und nicht immer einfach.

Nicht nur als Sohn/Tochter, sondern auch als Eltern lässt man eine fremde Person in seinen Alltag hinein und öffnet im wahrsten Sinne des Wortes seine Privatsphäre. Dabei können gute Freundschaften entstehen, aber in einem freundschaftlichen Verhältnis verändern sich beidseitig die professionelle Distanz und damit auch das Bewusstsein für die Assistenz als reine Dienstleistung. In jedem Fall aber wird es zu einer echten Herausforderung, Kritik an der Assistenzperson zu äußern, wenn man abhängig von ihr und angewiesen auf eine harmonische Beziehung ist.

Ein großes Problem des Lebens mit Assistenz stellt sich in der Personalauswahl dar. Studierende sind trotz der geringen Löhne, die höchstens denen einer Pflegehilfskraft entsprechen, für einen Nebenjob als Assistenzkraft gut zu begeistern, sind aber verständlicherweise nur in größeren Städten zu finden. Für eine Hauptbeschäftigung aber, durch die man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, interessiert sich aufgrund der geringen Löhne in den meisten Fällen nur Personal, das keinen geradlinigen Lebenslauf hat und auf dem regulären Arbeitsmarkt aus Gründen eigener psychosozialer Probleme nur schwer einen Platz findet. Man könnte sogar sagen, dass „eine gegenseitige Inklusion“ stattfindet.

Personen, die ihre Assistenzkräfte als Arbeitgeber angestellt haben, betrifft zusätzlich die Schwierigkeit, Ersatz in einem unvorhergesehenen Krankheitsfall des Assistenten zu finden. In den meisten Fällen sind Krankheitsausfälle sogar nur dadurch zu kompensieren, dass Eltern, Nachbarn oder Freunde einspringen.

Allgemein bin ich der Meinung, dass insbesondere bis zum jungen Erwachsenenalter starkes elterliches Engagement für ein Leben mit einigermaßen gleichberechtigter Teilhabe notwendig ist. Die Chancen für eine gute Förderung und Bildung, für eine erfüllende Freizeit und für die Entwicklung einer gesunden (inklusiven) Identität sinken meiner Meinung nach, wenn Eltern sich zu früh zurückziehen und beispielsweise Verantwortung an Sondereinrichtungen abgeben. Denn mit der Verantwortung geben sie, so erlebe ich es immer wieder bei Bekannten von mir, auch Engagement ab. Deshalb möchte ich auch andere Eltern dazu motivieren, Eigeninitiative zu zeigen, sich zu interessieren und zu engagieren und dem Kind möglichst viele Lebensbereiche außerhalb von Sondereinrichtungen zu ermöglichen.

Generell wird eine Sondereinrichtung nie inklusiv sein können, auch wenn der Begriff Inklusion wie ein Stempel immer wieder auch von Sondereinrichtungen verwendet wird. In einer Sondereinrichtung – egal ob Förderschule, Werkstatt oder Wohnheim – befindet man sich immer in einer Blase aus anderen Menschen mit Behinderung und deren Umfeld. Gemäß der Konzeptzeichnung der Aktion Mensch kann das im besten Falle Integration sein, meist sogar eher Separation. Als Inklusion lässt sich nur eine komplett bunte Durchmischung von Menschen bezeichnen. Und die Persönliche Assistenz ist möglicherweise die einzige Methode, um einen Schritt auf dem Weg dieser Inklusion zu gehen.


Bildquelle: Wikipedia, Robert Aehnelt

Verfasser: Julian (April 2023)

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