Was bedeutet Teilhabe? für Menschen mit einem komplexen Behinderungsbild

Auf der letzten Mitgliedervereinigung der Lebenshilfe in Marburg konnte ich einen Vortrag von Prof. Dr. Theo Klauß verfolgen. Es hat mich beeindruckt, wie er wieder auf das Thema Menschen mit komplexer Behinderung aufmerksam machte. Es ist traurig, dass die Lebenshilfe und damit ja auch die Behindertenhilfe wieder einmal auf diese Personengruppe überhaupt hinweisen muss. Der Grund ist naheliegend. Betreuung, Pflege, Teilhabe kosten Geld. Je höher der idividuelle Bedarf, umso mehr sind einzelne Bereiche gefordert und kosten Geld. Alles kostet Geld und natürlich expandieren die Ausgaben auch im Bereich der Behindertenhilfe. Auf der einen Seite stehen die Selbstvertreter mit ihren berechtigten Forderungen nach Teilhabe und versuchen ihre Ansprüche umzusetzen. Auf der anderen Seite sind die Menschen mit einem komplexen Behinderungsbild, die einfach in allem auf andere Menschen angewiesen sind. Meist sind es die Eltern, zumindest solange sie noch können, die ihre Kinder versorgen. Oft sind sie nicht nur die, die für alles zuständig sind, sondern auch diese wertvollen Menschen im Leben eines von Mehrfachbehinderung Betroffenen, die überhaupt wenigsten ein bisschen Teilhabe ermöglichen. Und weil das so ist, haben irgendwie viele Außenstehende gar keine Vorstellung von dem individuellen Bedarf dieser Personengruppe mit komplexen Behinderungsbild. Auch Herr Prof. Klauß hat es ähnlich definiert. Man kann ja noch nicht einmal ein einheitliches Bild einer komplexen Behinderung darstellen. Was ist eine komplexe Behinderung, wie äußert sie sich und was ist der individuelle Bedarf? Diese Frage stellte man sich bereits 1977 auf einem Kongress.

Mein Dank geht aber erstmal vorab an das noch vorhandene Personal in Einrichtungen, das immer wieder den Mut hat und diese große Einsatzbereitschaft zeigt. Mein Dank gilt dem Personal, welches eine lange Ausbildung durchlief und motiviert auch zeigen wollte, was es gelernt hat, aber der tägliche Ablauf der Arbeit, keinen Freiraum dafür offen lässt. Mein Dank geht auch an die vielen Hilfekräfte, ohne die das System bereits untergegangen wäre. Mein Dank geht an die, deren Arbeitsplätze bereits einer Schließung zum Opfer vielen und mein Dank geht an die, die nachwievor gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Alle zusammen bilden das System, sind die Menschen, die sich einer Personengruppe verschrieben haben die viel fordert, aber auch unendlich viel zurückgeben kann.

Menschen mit komplexer Behinderung brauchen Teilhabe und Unterstützung, sowie auch körperliche Nähe. Sie brauchen Hilfe bei der Fortbewegung und man muss sie auch ohne Sprache verstehen können. Sie brauchen Zeit und benötigen oftmals eine sehr zweitaufwendige Betreuung. Überwiegend geben ihnen diese Zeit die Eltern. Sie werden in ihrer Eigenschaft allmählich zu Fachkräften und sind 24/7 von Geburt an immer da. Keiner kennt wie sie die Besonderheiten in der oftmals sehr unterschiedlichen Betreuung. Die Familie ist dadurch auch sehr aktiv. Durch ein oftmals auftretendes Unverständnis aus dem Umfeld der Familie und Worte wie: „Wäre es nicht besser gewesen, das Kind wäre bei der Geburt gestorben?“, oder die oft im Raum stehende Frage: „Hätte man es nicht abtreiben können?“, oder dieser so verletzende Satz mit dem Eltern früh lernen müssen umzugehen:„Da kann man nur froh sein, wenn man gesunde Kinder hat!“

Eltern kommen oft nur weiter wenn sie Widerstand ausüben, kämpfen lernen und Hartnäckig bleiben. Doch das macht sie auch unbequem. Das Leben als Mutter eines Kindes mit einem komplexen Behinderungsbild birgt viele Herausforderungen und lässt einem kaum mehr Zeit für andere Dinge. Und dann kommen die Leistungsträger ins Spiel und ermitteln, bzw. erkennen den Bedarf, oftmals über den Schreibtisch hinweg. Im Nachgang wird dann unangemessen, dass heißt nur bedingt individuell, mit den Leistungsträgern verhandelt. Günstig soll es sein, der Mindestbedarf muss reichen. Alles andere wäre Luxus gleichgesetzt. Behinderte junge Menschen dürfen nicht besser gestellt sein, als Menschen am Lebensabend. Grotesk, denn auch die Leistungsträger wissen am Ende, dass sie damit den Leistungserbringern die Unterbringung ihrer dann im Auftrag zu Betreuenden wohl zusichern, aber keinesfalls diesen dann auch eine angemessene Teilhabe ermöglichen können. Auftrag somit aber erfüllt. Ein Recht, ein ausgesprochenes Menschenrecht wird einfach unterlaufen und alle schauen zu. (Grundgesetz §1 (1-3)

Wie will man denn den individuellen Bedarf an einer Hilfebedarfsgruppe allein ermessen? Eine Spastik wirkt sich unterschiedlich aus, eine Epilepsie kann völlig unterschiedliche Verhaltensmuster erzeugen, Krampfpotenzial entwickeln, 24/7 Betreuung erfordern. Die unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Sinne, manchmal auch gleichzeitig auftretend, können so vielfältige Bedarf in sich birgen, dass man es gar nicht umfassend von außen ermessen kann. Völlig untergehen dann auch die Krankheiten. Ein Mensch mit Behinderung scheint nach wie vor für unsere Gesellschaft in erster Linie ein Krankheitsfall zu sein. Ergo scheinen all die Krankheiten, die andere Menschen haben können, bei ihnen allenfalls zum Behinderungsbild zu gehören und nicht als eine ihnen und in angemessener Form zu behandelnde Krankheit, wie jeder Mensch sie haben kann. Fang ich dann noch an Organspende in Verbindung mit Ethik zu denken, nimmt es mir zunehmend meinen Glauben an unsere Gesellschaft. Doch zu den Krankheiten gehören auch Depressionen und psychische Erkrankungen, die auch durch Einsamkeit und Vernachlässigung auftreten können. Nebenwirkungen von schweren Medikamenten, die frühzeitig Erkrankungen des Skeletts nach sich ziehen können, usw. Die psychisch soziale Gesundheit bei Menschen mit komplexen Behinderungsbild scheint nicht relevant. Die Schwere einer geistigen Beeinträchtigung reduziert vieles auf ein Mindestmaß an Zugeständnissen und auch Zuwendung.
Prof. Klauß sagte auf der Mitgliederversammlung, dass wir über diese Menschen sprechen müssen! Ja, wir müssen über sie sprechen und die Leistungsträger und Leistungsanbieter und in erster Linie die Politik ist hier gefordert!
Wir müssen über diese Menschen sprechen, weil sie zunehmend ihr Zuhause in Einrichtungen verlieren, oder nur noch mit halbwegs besetzten Stellen verwahrt werden. Auch Menschen mit komplexer Behinderung können nur gut leben, wenn sie teilhaben können. Sie werden zusätzlich behindert, weil sie diese Teilhabe nicht zugestanden bekommen! Dabei wäre es möglich und würde zudem einem geltenden Gesetz ensprechen. Menschen mit komplexer Behinderung wollen auch einfach mit dabeisein. Sie wollen auch raus und an die frische Luft, sie wollen Stimmen hören und sie wollen das Gefühl haben, dass Menschen um sie herum sind. Menschen, die sie auch außerhalb der Pflegezeiten ansprechen und auch berühren. Menschen mit komplexer Behinderung haben ein Recht auf das Gefühl dazuzugehören!

Wir haben zunehmend Probleme in Deutschland, denen wir uns widmen müssen. Altersarmut, Demographischer Wandel, aber hatten wir denn die Bedürfnisse von Menschen mit hohem Hilfebedarf jemals so richtig ins Blickfeld gesetzt?. An meinem eigenen Sohn und seiner Unterbringung kann ich es ermessen. Der Träger schiebt es auf den Leistungserbringer und umgekehrt. Sichtlich ist dabei, dass es auch schon vor 10 Jahren an Personal gefehlt hat. Drei Schichtdienste, viel Arbeit auf wenigen Schultern verteilt, Eingliederungshilfe, die sich nicht für die Pflege verantwortlich fühlt, Pflegekassen, die sich eines Menschen mit Pflegegrad 5 für 266€ im Monat förmlich entledigen. Wobei der Pflegegrad selbst sogar noch unerheblich ist. Kommt ein Mensch mit Pflegegrad in ein Wohnheim auf Basis der Teilhabe, reduziert sich das Pflegegeld auf 266€ und auch alle anderen Leistungen fallen weg. Zugenommen hat das fachliche Personal auf den Behörden. Weil man es ja alles besser machen will und auch durch Gesetzgebung besser machen muss.
Wie weit sind wir aber durch die jahrelangen Deckelungen und viel zu niedrig angesetzten und finanzierten Personalschlüssel gekommen? Wir schließen Einrichtungen und man hält vielerorts die Füße still, weil es oftmals keine Antwort mehr auf die Frage gibt, wohin mit diesen Menschen? Leistungsträger sind verantwortlich und haben einen Auftrag den es zu erfüllen gilt. Zurück ins Elternhaus, bis Eltern verstorben sind und dann? Teilhabe? Angebunden im Krankenhaus und ruhig gestellt? Wie noch Teilhabe erleben, wenn die Fahrtkosten runter reduziert werden, aber diese Menschen nicht einfach mal so in den Bus steigen können? Wie soll Teilhabe überhaupt ermöglicht werden, wenn in den Einrichtungen für 8 hilflosen Menschen eine Hilfskraft im Dienst ist? Warum könnten Wohneinrichtungen gebaut werden, aber Investoren scheuen davor zurück, weil am Ende die Refinanzierung nicht mehr gewährleitet werden kann. Weil niemand mehr in einem Job arbeiten möchte, bei dem es auf beiden Seiten nur noch zu Frusterlebnissen durch völlige Überforderung kommen kann? Langzeitkranke, oder Aussteiger zum Alltag geworden sind?

Sicher sind viele Menschen aufgrund des zunehmenden Personalmangels in unseren Einrichtungen wohl nicht mehr. Das Personal kündigt verständlicherweise, will und kann sich der Verantwortung nicht mehr stellen!

Sauber zu sein ist ein Grundbedürfnis, aber für ein entspannendes Bad, oder eine warme entspannende Dusche, vielleicht sogar ein Schwimmbadbesuch ist keine Zeit mehr da, war eigentlich auch schon lange nicht mehr. Das Personal entschuldigt sich im besten Fall bei den zu Betreuenden und diese müssen damit leben.

Satt ist noch der schwerwiegendste Punkt. Wie soll eine Hilfskraft 8 Menschen im Dienst satt bekommen, die alle auf ein Essen reichen angewiesen sind, dabei teilweise in Gefahr schweben zu aspirieren und nicht ausdrücken können, ob sie überhaupt satt sind?

Nein, selbst bei der Abdeckung der Grundbedürfnisse haben wir zunehmend sehr große Probleme. Dann ist für mich der Begriff Teilhabe nur noch eine Utopie.

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