Liebe Eltern, liebe Geschwisterkinder, liebe Interessierte,
in diesem Gastbeitrag geht es um Geschwisterkinder. Vielen Dank an Frauke, die als erwachsenes Geschwisterkind diesen Beitrag verfasst hat.
Die Gastbeiträge sollen wie unsere Interviews unter anderem Mutmacher für andere Geschwisterkinder und Eltern sein.
Mit den Gastbeiträgen möchten wir Einblicke in die unterschiedlichen Entscheidungs- und Lebenswege von Eltern und Geschwisterkindern geben. Durch ihre Erfahrung und ihre ganz individuellen Entscheidungen sind Geschwisterkinder/Eltern nicht nur Helfer und Ratgeber in herausfordernden Situationen, sondern auch Mutmacher dafür, den eigenen Weg zu finden. Ganz nach unserem Motto „Geschwisterkinder/Eltern als Experten in eigener Sache“.
Ist Austausch unter Geschwistern von Kindern/Erwachsenen mit Behinderung wichtig?
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Ich bin Frauke und seit 41 Jahren Zwillingsschwester. Bei unserer Geburt ist ein schwerwiegende Fehler passiert und so hat meine Schwester aufgrund von Sauerstoffmangel eine stark ausgeprägte Tetraspastik. Gemeinsam mit unserer 2 Jahre jüngeren Schwester sind wir am östlichen Rand vom Ruhrgebiet aufgewachsen.
Aus meiner Kindheit in den 1980/90ern
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In meiner Kindheit wusste ich nicht, dass es Geschwisterangebote gibt bzw. gab es sie auch so gut wie gar nicht. Es waren ja die 1980/90er. Behinderung war noch mehr ein Tabuthema, als es heute immer noch zum großen Teil ist. Die Vorurteile in den Köpfen der Menschen und die Barrieren im Alltag sind von klein auf ein Bestandteil meines Leben. Hinzu kommt die fehlende Inklusion, so dass niedrigschwellige Kontakte zwischen verschiedenen Familienrealitäten einfach nicht zustande kommen können. Die tief verwurzelten Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung bleiben weiter bestehen und diese erleben auch die Geschwister(kinder). Als Kind wurde ich von klein auf damit konfrontiert.
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Wir hatten damals kaum Unterstützung von außen. Der Förderbedarf meiner Zwillingsschwester war hoch und die Zeit einer Mutter mit drei Kindern, von denen eins eine Schwerbehinderung hat, knapp. Meine Mutter war ständig übermüdet. Bei den diversen Terminen zu Ärzt*innen, Logopädie, Physiotherapie etc. kamen wir Schwestern ohne Behinderung natürlich mit. Die Übungen von dort haben wir zuhause mit umgesetzt und unsere Mutter in der Förderung unterstützt. Durch die fehlende Unterstützung von außen übernahmen wir Aufgaben, für die wir eigentlich zu jung waren.
Meine Zwillingsschwester ist „nichtsprechend“ bzw. unterstützt kommunizierend. Wir haben von klein auf mit ihr kommuniziert, nur dass eine von uns halt nonverbal war. Anfangs mit Gestik, Mimik, Ja-/Nein-Fragen. Dann kamen nach und nach verschiedene Kommunikationssysteme dazu und irgendwann die elektronische Variante namens Talker. Hinzu kamen natürlich weitere Hilfsmittel, wie ein Rollstuhl, ein Stehtrainer, ein Gehwagen etc.
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Alle benötigten Hilfsmittel standen meiner Schwester rein rechtlich zu, doch die Kostenträger lehnten Anträge meist erst mal ab, schickten den Medizinischen Dienst zur Begutachtung oder es fiel ihnen sonst was ein, um die Hilfsmittel nicht zu bewilligen.
Es klingt hier bereits durch: alles nahm viel Zeit und Raum in Anspruch. Es gab etliche Kämpfe auf etlichen Ebenen zu kämpfen um das zu bekommen, was uns bzw. meiner Zwillingsschwester zustand. Hinzu kam die Armut, die viele pflegende Familien betrifft.
Doch für uns war es normal. Es war unsere Kindheit und wir kannten es nicht anders. Wir sind so aufgewachsen und haben natürlich nicht hinterfragt, ob bei uns etwas anders sein könnte als bei anderen Familien. Nebenbei haben wir Fähigkeit entwickelt, die gleichaltrige Kinder viel später erlernen: soziale Kompetenzen, Lösungsorientierung, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, Empathie, Hilfsbereitschaft…
Mein Alltag war nicht der Alltag von gleichaltrigen Kindern
Offensichtlich wurden die Unterschiede beim Schulbeginn. Ich kam auf die reguläre Grundschule vor Ort. Meine Zwillingsschwester auf die Sonderschule in der nächst größeren Stadt, wo sie jeden Tag mit dem Fahrdienst 1 Stunde pro Strecke hingefahren wurde. Auf einmal war ich umgeben von Kindern (und Lehrpersonen), die mit meinem Alltag nichts anzufangen wussten und auch keinerlei Offenheit hierfür zeigten. Hinzu kam starkes Mobbing ab Tag 1.
Meine Zwillingsschwester bekam in ihrer Schule wenig Förderung oder Unterricht. Und so holten wir viel davon zuhause nach. Lesen, Schreiben, Rechnen: nach meinem Schulunterricht habe ich mitgeholfen, damit meine Zwillingsschwester zumindest die grundlegendsten Dinge erlernt.
Ich war oft allein mit meinen Gedanken und wenn in der Schule „normale“ Dinge besprochen wurden, wie zum Beispiel „Was habt ihr denn in den Ferien gemacht?“, wurde ich oft mit großen Augen angeschaut, wenn ich von uns erzählte. Häufig wurde ich dann schnell unterbrochen und das nächste Kind dran genommen. Heute weiß ich, dass nicht ich das Problem war, sondern die Lehrperson, die scheinbar überfordert mit der Situation war. Damals wusste ich das nicht.
Bereits als Kind wurde ich von Erwachsenen mit Themen konfrontiert, die nicht altersentsprechend und auf Augenhöhe besprochen wurden. Voller eigener Vorurteile stellten sie mir Fragen von „Wärst du nicht froh, wenn deine Schwester tot wäre?“ bis hin zu „Warum gebt ihr sie nicht ins Heim?“. Keines der damaligen Gespräch zielte darauf ab meine Sichtweise zu erfahren. Stattdessen wollten erwachsene Menschen ihre eigene Meinung kundtun und drängten mich dadurch in eine Ecke, wo ich nur noch damit beschäftigt war, das Leben meiner Zwillingsschwester und auch die Wertigkeit ihres Lebens zu verteidigen. Doch auch das war für mich normal. Ich kannte es nicht anders.
Damals fehlten mir die Worte dafür um in diesen Gesprächen zu sagen, dass das alles sehr unangemessen und völlig deplatziert ist. Und wenn es mir nicht gelang, mein Gegenüber davon zu überzeugen, dass meine Schwester ein toller Mensch ist, habe ich die Schuld daran bei mir gesucht.
Das Schuldthema war eh ziemlich groß damals. Aber nicht von mir aus. Von außen wurde mir ständig suggeriert, dass ich mich schuldig an der Behinderung meiner Zwillingsschwester fühlen müsste. Oder zumindest daran, dass ich keine Behinderung habe, sie aber schon.
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Ich als Erwachsene Schwester
All diese Themen verfolgen mich bis heute. Nur, dass ich heute als Erwachsene Schwester anders kommunizieren und auch reagieren kann. Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, dass manche Menschen nur bei sich sind und so voller festgefahrener Vorurteile, dass ich keine Möglichkeit habe, meine Perspektive mitzuteilen. Mittlerweile verlasse ich dann die Situation. Früher war ich ihr ausgeliefert und hatte keinen Handlungsspielraum, der mir bekannt war.
Nun habe ich vor ein paar Jahren erfahren, dass ich mit all meinen Erfahrungen nicht alleine bin. Es gibt noch so viel mehr Menschen, die einen ähnlichen Lebenslauf haben und ähnliche Erfahrungen durchlebt haben: andere Geschwister von Menschen mit Behinderung!
Als ich davon erfuhr, war es ein bisschen so, als wenn sich für mich eine neue Welt auftun würde. Dort waren Menschen, wie ich! Auch wenn wir alle individuelle Geschichten mitbringen, vereint uns, dass wir ähnliche prägende Situationen in der Kindheit, der Jugend und auch im Erwachsenenalter erlebt haben. Jedes Mal, wenn ich zu Veranstaltungen für Erwachsene Geschwister gehe, begegne ich Menschen, die sehr offen, respektvoll und verständnisvoll miteinander umgehen. Wir können uns austauschen, gemeinsam lachen und manchmal auch weinen.
Leider ist das Verständnis für diesen Austausch immer noch nicht weit verbreitet. Für Geschwisterkinder wächst das Angebot nach und nach. Es gibt immer mehr regionale oder überregionale Termine oder Workshops. Für Erwachsene Geschwister ist das Angebot nach wie vor überschaubar. Umso mehr freue ich mich z. B. auf das Jahresmeeting der Erwachsenen Geschwister und den Online-Austausch in der dazugehörigen Facebook-Gruppe.
Ich weiß von manchen Erwachsenen Geschwistern, dass sie heimlich zu den Treffen gehen, weil sie von ihren Eltern sonst Vorwürfe hören. Ebenso habe ich das schon öfter von aktuell pflegenden Eltern gehört, die einen Austausch für die nichtbehinderten Geschwisterkinder überflüssig finden. Aus Elternsicht hatten oder haben die Geschwister doch alles und sie haben ja nie gelitten und immer gern geholfen. Manchmal fühlen sich die Eltern angegriffen, als wenn sie selbst etwas falsch gemacht hätten, wenn die Geschwister ohne Behinderung nun einen (angeleiteten) Austausch mit anderen wünschen.
Doch darum geht es bei diesen Angeboten ja nicht. Es geht darum, dass wir Geschwister einfach Situationen und Lebensabschnitte erleben, die anders verlaufen als bei Gleichaltrigen. So fehlt häufig die Möglichkeit zum Austausch oder auch das Verständnis für die jeweilige Situation. Während z. B. viele Menschen mit dem Thema gesetzliche Betreuung erst in Kontakt kommen, wenn die eigenen Eltern alt werden, ist das bei uns Erwachsenen Geschwistern oft viel, viel früher der Fall. Ich selbst hatte für 12 Jahre die gesetzliche Betreuung und habe sie vor 11 Jahren abgeben. Mit wem konnte ich mich dazu austauschen? Damals mit niemandem.
Außerdem beschäftigen uns auch generelle Zukunftsfragen. Sei es, wie sich die Wohnsituation des Geschwisters entwickelt oder was passiert, wenn die Eltern irgendwann nicht mehr so können? Und auch die eigene Zukunftsplanung: Wo möchte ich leben? Wo kann ich leben? Werde ich vor Ort gebraucht?
Als Kind hätte ich mir rückblickend auch bereits Austauschmöglichkeiten gewünscht. Über all die oben beschriebenen Dinge konnte ich mit niemandem sprechen und so fühlte ich mich oft allein mit dem, was ich erlebte und was mein Alltag war.
Ist ein Austausch unter Geschwister(kindern) wichtig?
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Meiner Meinung nach ist ein Austausch sehr wichtig. Also zumindest das Angebot für einen solchen Austausch. Ob es dann wirklich angenommen wird oder die jeweilige Veranstaltung zu einem selbst passt, steht noch mal auf einem anderen Blatt. Wir können davon profitieren, wenn wir die Gelegenheit bekommen einmal zu schauen, was andere Kinder/Erwachsene in ähnlichen Situationen erleben, denken und fühlen. Sei es bei einem monatlichen Austausch in einer regionalen Gruppe oder bei einem Wochenende oder einer Ferienaktion. Zeit für sich selbst fehlt oft in den Familienkonstellationen mit einem Kind mit Behinderung. Meist gibt es zu wenig Unterstützung von Außen und keine oder zu wenig Entlastung für die gesamte Familie.
Das Geschwister-Sein hat etwas Verbindendes. Meist ist es unsichtbar. Wie eine geheime Superkraft. Wenn ich in einen Raum komme, sehe ich es Menschen ja nicht an, wenn es gerade nicht zufälligerweise thematisiert wird. Und das wird es ungefähr nie. Also hilft ein extra geschaffener Rahmen für uns, wo wir in Kontakt kommen, uns mit dem komplexen Thema und unserem Alltag auseinandersetzen können. Ohne diese Angebote hätte ich keinerlei Kontakte zu anderen Geschwistern. Vielleicht hätte ich welche gekannt, ohne es zu ahnen. Vielleicht wäre da aber auch wirklich niemand gewesen.
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Seitdem ich mich offen mit meiner Schwesternrolle auseinander setze, lerne ich immer mehr andere Geschwister kennen. Und das ist sehr, sehr wertvoll für mich. Ich bin nicht alleine mit meinen Erfahrungen, Sorgen, Freuden, Ängsten, Erlebnissen… Wir sind viele!
Verfasserin: Frauke Gonsior (Oktober 2024)