Unsere Tochter zieht in eine WG - ein Beitrag von Inge Rosenberger

Liebe Eltern,

heute kommt der zweite Gastbeitrag von Inge Rosenberger zum Thema „Wohnen“. Vielen Dank an Inge.
Dieser Gastbeitrag ist eigentlich kein richtiger "Gast"beitrag, da Inge eine unserer wundervollen ModeratorInnen ist.
Inge schreibt in ihrem Beitrag über den Weg bis zum Auszug ihrer Tochter in eine WG.

Die Gastbeiträge sollen wie unsere Interviews Mutmacher für euch sein und individuelle Lebenswege aufzeigen.

Genauso einzigartig und individuell wie ihre Kinder sind auch die Erfahrungsschätze und Entscheidungswege der Eltern. Mit unseren Gastbeiträgen möchten wir dir Einblicke in diese unterschiedlichen Lebenswege geben.

Durch ihre Erfahrung und ihre ganz individuellen Entscheidungen sind Eltern nicht nur Helfer und Ratgeber in herausfordernden Situationen, sondern auch Mutmacher dafür den eigenen Weg zu finden.

Ganz nach unserem Motto „Eltern als Experten in eigener Sache“.

Unsere Tochter zieht in eine WG

Annika wurde 1983 geboren und lebt mit dem Rett-Syndrom. Das Rett-Syndrom ist eine komplexe
Behinderung und wird durch eine genetische Mutation verursacht. Annika wird ihr ganzes Leben lang in allen Bereichen Betreuung und Pflege benötigen und ist somit rund um die Uhr auf Unterstützung angewiesen.
In Anbetracht dessen, dass Annika (*1983) nicht „von alleine" aus dem Elternhaus ausziehen und ihren eigenen Weg gehen kann, musste ich mir immer wieder bewusst machen, dass wir Eltern uns nicht lebenslang um sie kümmern können. Leider musste ich bei meinen ersten Erkundigungen feststellen, dass Menschen mit hohem Hilfebedarf und komplexen Behinderungen wenig bzw. keine Wahlfreiheit beim Wohnen haben und die vorhandenen Angebote für Annika nicht geeignet waren.
So begann die Geschichte im Jahr 2006. Annika war 23 Jahre alt.


Bildquelle: Medienhaus Main-Echo Björn Friedrich

In den Jahren 2006 bis 2012 kämpften wir Eltern mit Unterstützung der Lebenshilfe für den Aufbau von kleinen Wohngruppen, in denen Werkstattgänger und Tagesförderstättenbesucher gemeinsam leben und die Menschen weiterhin ihre bisherige Tagesförderstätte oder WfbM besuchen können. Obwohl wir diese Forderung politisch durchsetzen konnten, wurde das Konzept nie umgesetzt. Es war von den Entscheidungsträgern nicht gewollt.
Diese Enttäuschung und der dadurch entstandene massive Vertrauensverlust wurden für mich zur
Motivation, neue Wege zu gehen und eine kleine Wohngemeinschaft zu realisieren.
Nach mehreren Treffen mit anderen interessierten Eltern wurde im Juli 2012 die IG Inklusives Wohnen als Zusammenschluss von Eltern im Raum Aschaffenburg und Miltenberg ins Leben gerufen – mit dem Ziel kleine, ambulant betreute Wohngemeinschaften für unsere Töchter und Söhne aufzubauen.
In den nächsten Monaten und Jahren ging ich auf die Suche nach weiteren Informationen und nahm
Kontakt auf mit bereits bestehenden Wohngemeinschaften in Deutschland. Ich telefonierte mich durch halb Deutschland und fuhr etliche Kilometer, um mir einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.
Bei weiteren gemeinsamen Besprechungen mit den Eltern in unserer Region zeigte sich, dass sich viele Familien für ihre Kinder mit höherem Hilfebedarf inklusive Wohnformen wünschen – aber auch, dass andere Eltern ein Zusammenleben ihrer leichter behinderten Kinder mit schwerstbehinderten Menschen ablehnen.

Die vielen Wege, Irrwege, bürokratische Hürden und anderen Hindernisse in den insgesamt sieben Jahren vom ersten Termin mit der Bezirksverwaltung im Jahr 2014 bis zum Auszug aus dem Elternhaus im Jahr 2021 möchte ich außen vor lassen, denn das Gefühl, jahrelang gegen Wände zu reden und zu rennen, war zermürbend. Wir mussten bei diesen Gesprächen viel Überzeugungsarbeit leisten und beständig um Unterstützung bitten.
Das Ergebnis: Viele Bedenken. Viele warme Worte. Keine Zusagen. Keine offizielle Unterstützung.
Trotz aller Schwierigkeiten und Bedenken fanden sich letztendlich vier Familien, die für ihre Töchter
möglichst bald ein neues, eigenes Zuhause schaffen wollten.
Unser Ziel war, dass unsere vier Töchter mit Komplexer Behinderung in einer kleinen Wohngemeinschaft ambulant unterstützt wohnen und dafür jeden Tag individuelle und bedarfsgerechte Hilfen rund-um-die-Uhr erhalten.
Dieses Ziel zu erreichen, stellte uns Eltern vor unfassbare Schwierigkeiten, die wir neben der langjährigen Betreuung und Pflege unserer Töchter bewältigen mussten. Kaum jemand glaubte an die Umsetzung unserer Idee und nur ein einziger Mensch unterstützte uns auf professionelle Weise mit seinem Wissen und seinem Engagement von Anfang an auf diesem Weg. Ich bin Kurt Heuß, Wohnstättenleiter der Lebenshilfe-Miltenberg, dafür sehr dankbar.
Die entscheidende Wende kam jedoch erst, als die bayerische Landtagspräsidentin a. D. und 1. Vorsitzende des Lebenshilfe-Landesverbandes Barbara Stamm († 2022) die Schirmherrschaft für unser Wohnprojekt übernommen hatte. Das hat maßgeblich dazu beigetragen, dass wir unser Wohnprojekt politisch durchsetzen und damit auch in die Praxis umsetzen konnten.
Da die Wohngemeinschaft ordnungsrechtlich nicht eindeutig positioniert werden konnte, wurde sie als Modellprojekt eingeordnet. Dazu bedarf es einer wissenschaftlichen Erforschung, die durch die Universität Würzburg, Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung erfolgt. Die Kosten für die 3-jährige wissenschaftliche Begleitung trägt das bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege.

Im Sommer 2019 fanden wir nach langer Suche endlich ein passendes Objekt, in dem eine Wohnung für den Bedarf unserer Töchter geplant werden konnte. Auch hier gab es wieder große Schwierigkeiten, bis der Mietvertrag abgeschlossen werden konnte. Danach waren wir wieder einen großen Schritt weiter. Diese Zeit war voller Vorfreude auf das Einrichten der eigenen Zimmer und der großen Wohnküche.
Dann kam Corona und damit weitere Verzögerungen, die uns abwechselnd zwischen erzwungener
Untätigkeit und hektischen Aktivitäten pendeln ließen. Ich schwankte zu dieser Zeit monatelang zwischen Euphorie und Panik.
Die Finanzierung der Wohngemeinschaft erfolgt über ein so genanntes „Trägerübergreifendes Persönliches Budget“. In unserer Region ist der Sozialhilfeträger Ansprechpartner für die Finanzierung der Leistungen für Betreuung, Teilhabe und Pflege. Das Prinzip der „Leistungen wie aus einer Hand“ soll damit realisiert werden, auch wenn mehrere Kostenträger von Eingliederungshilfe, Pflegekasse, Krankenkasse und Sozialhilfe beteiligt sind. Die Bürokratie kostet dennoch unglaublich viel Zeit und Nerven.
Für unsere Töchter werden Teilhabe und Betreuung in der WG durch die Lebenshilfe-Miltenberg geleistet; die Pflegeleistungen werden teilweise von der Caritas-Sozialstation übernommen. Tagsüber gehen unsere Töchter weiterhin in die Tagesförderstätten, die sie schon seit Jahren besuchen.
Es war ein langer und schwieriger Weg und ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass wir dieses große Etappenziel erreicht haben. Ich fühle mich zwar ziemlich müde und abgekämpft, aber wir sind angekommen.

15 Jahre nach meinen ersten Aktivitäten für selbstbestimmte Wohnformen für Menschen mit komplexer Behinderung, neun Jahre nach Gründung der IG-Inklusives-Wohnen und sieben Jahre nach dem ersten Termin mit dem Kostenträger ist Annika im Mai 2021 in „ihre“ WG eingezogen.
Das Zurücklassen von Annika in der WG fühlte sich für mich sehr seltsam an - als würde ich sie im Stich lassen. Theoretisch wusste ich, dass es nicht der Fall ist, aber das Herz geht manchmal andere Wege als der Kopf.
Einen Tag später habe ich mit der WG telefoniert und erfahren, dass Annika gut isst und trinkt und dass ihre Bezugsbetreuerin einen DVD-Player und ein Konzert von den Toten Hosen mitgebracht hat. Annika war begeistert (und ich auch).
Dennoch muss ich mich in vielen Bereichen immer wieder zur Gelassenheit ermahnen, denn es geht nicht um mich, sondern um das Wohlergehen von Annika.
Auch nach mehr als einem Jahr holpert es dann und wann noch, aber wir haben ein großes Ziel erreicht.


Bildquelle: privat

Die Menschen um sie herum sind fachlich und menschlich engagiert und sehr herzlich. Annika gefällt es in der etwas quirligen WG oftmals besser als zu Hause.
Meine Zwischenbilanz nach inzwischen 18 Monaten: Der jahrelange Kampf hat sich gelohnt!
Durch das langwierige Engagement für das Projekt hatte ich kaum Zeit, mich selbst auf das – wie es so schön heißt – „Loslassen“ vorzubereiten. Dennoch können wir Eltern die ungewohnt üppige freie Zeit und die Chance für gemeinsame spontane Unternehmungen sehr genießen.
Inzwischen weiß ich, dass es für mich nur schwierig wird, wenn es für Annika schwierig ist. Wenn es ihr in der WG gut geht, dann kann sie ihren eigenen Weg in der für sie möglichen Selbstbestimmung gehen – und ich kann sehr gut loslassen, wenn die Bedingungen für Annika passen.
Wichtig ist es, sich schon früh mit dem Auszug des Kindes zu beschäftigen und sich mit gleichgesinnten Eltern zu vernetzen.

Es ist unbedingt erforderlich, dass diese z. T. absurden bürokratischen Hürden abgebaut werden und der jeweils individuelle Bedarf des behinderten Menschen transparent ermittelt, anerkannt, abgedeckt und nicht immer wieder in Frage gestellt wird.
Beratung über inklusive Wohnformen muss im Interesse der behinderten Menschen erfolgen.
Es muss möglich sein, dass Menschen mit hohem Hilfe- und Betreuungsbedarf die erforderliche
Unterstützung erhalten, um genau so wohnen können wie andere Menschen in ihrem Alter, also auch in eigener Wohnung oder in einer Wohngemeinschaft. Dies wäre ein großer Schritt in Richtung Inklusion.

Verfasserin: Inge Rosenberger (November 2022)

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