Jugend- und Erwachsenenalter
Auszug von zu Hause
Stand: 10.10.2024
Der Auszug von zu Hause ist in der Regel für alle Menschen ein wichtiger Schritt zu mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Ob ein Kind eine Behinderung hat oder nicht - dieser Schritt ist zunächst für viele Eltern nicht leicht. Für Eltern von Kindern mit Behinderung hat der Auszug des Kindes und der Ablöseprozess aber meist nochmal eine andere Bedeutung, da der Auszug mit vielen Fragen verbunden ist. Wo und wie finde ich ein geeignetes Wohnangebot? Wird es meinem Kind ohne uns als Eltern gut gehen? Wird mein Kind mit der großen Veränderung, die ein Umzug mit sich bringt, klarkommen? Wie kann mein Kind zukünftig unterstützt werden, auch wenn wir als Eltern in Zukunft weniger oder nicht mehr für das Kind sorgen können? Folgender Fachbeitrag soll dich als Elternteil eines Kindes mit Behinderung beim Thema Auszug unterstützen.
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Was bedeutet der Auszug?
Viele Eltern von Kindern mit Behinderung tun sich schwer mit dem Gedanken, dass ihr Kind von daheim ausziehen soll. Doch warum ist das so? Ein Grund dafür ist, dass die Eltern ihre Kinder meist mehr unterstützen müssen, als Kinder, die keine Behinderung haben und die vielleicht schon mit 15 Jahren ihre eigenen Wege gehen. Umso schwieriger fällt natürlich auch das Loslassen, weil man in gewisser Weise fester zusammengewachsen ist und es auch schwerfällt, sich das Leben anders vorzustellen.
Dann gibt es auch noch den Gedanken, dass der Auszug für das Kind nicht unbedingt ein Schritt in die Selbständigkeit bedeutet, weil es sich nicht alleine versorgen kann. Das ist bei vielen Kindern mit Behinderung auch so. Aber dennoch kann das Ausziehen ein Schritt in „ein eigenes Leben“ unabhängig von den Eltern sein, auch wenn dafür mehr Unterstützung notwendig ist. Dieser Schritt ist in vielerlei Hinsicht für alle Heranwachsenden wichtig. Das Gefühl des „Erwachsenseins“ und „etwas Eigenes“ zu haben ist eine wertvolle Erfahrung, die zum Leben dazu gehört und zum Teil Grundlage für weitere Entwicklungsschritte ist, die man vielleicht gar nicht für möglich gehalten hätte.
Entscheidend ist auch oft die brennende Frage, ob es dem Kind dort dann auch gut geht, weil man doch selbst nach vielen Jahren am besten weiß, was ihm gut tut und welche Unterstützung gebraucht wird. Doch auch für Kinder mit Behinderung ist es wichtig zu lernen Kompromisse einzugehen und dass man vielleicht nicht immer an erster Stelle stehen kann, wie es in der Familie häufiger der Fall ist. Auch in dieser Hinsicht bedeutet der Auszug eine Entwicklung.
Angst, den Kontakt zu meinem Kind nach dem Auszug zu verlieren
Diese Angst kommt häufig vor, jedoch bedeutet ein Auszug nicht automatisch, dass man den Kontakt zu seinem Kind verliert. Es ist immer eine individuelle Entscheidung, wie man den Kontakt pflegt, so wie man zu anderen Kindern - die von zu Hause ausziehen - auch noch mehr oder weniger intensiven Kontakt hält. Gemeinsame Unternehmungen, Einladungen zum Abendessen, Telefonate, Videoanrufe und all das lässt die Verbindung zu deinem Kind bestehen. Es gibt einige Möglichkeiten weiterhin ein Miteinander zu gestalten, nur eben in einem geringeren Umfang.
Was spricht für einen Auszug?
Natürlich gibt es auch Kinder, die nicht von zu Hause ausziehen und das ist und bleibt die Entscheidung eines jeden Einzelnen. Wenn alle Beteiligten damit zufrieden sind, kann das natürlich auch eine Alternative sein. Einige Dinge können jedoch für die Suche nach einer passenden Wohnmöglichkeit für dein Kind sprechen.
Betreuung und Pflege in der Zukunft
Denke auch an die Zukunft und daran, was passiert, wenn Du einmal “nicht mehr so kannst” und die Pflege körperlich zu anstrengend ist. Je älter ein Kind wird und je länger es zu Hause lebt, desto schwieriger wird es auch in der Regel für das Kind sich beispielsweise in hohem Alter nochmal auf eine andere Wohnform einzustellen. Auch die Suche und der Übergang in ein passendes Wohnangebot kann vielleicht nicht mehr so begleitet werden, wenn man sehr spontan einen Platz benötigt.
Freizeit
Als Elternteil ist es wichtig, auch Freizeit und Erholung zu bekommen. Gerade dann, wenn Du in den letzten Jahren vermehrt Belastungen und anstrengenden Phasen ausgesetzt warst. Natürlich hast Du das für dein Kind gerne auf dich genommen, aber auch Eltern sind nicht unbegrenzt belastbar. Zwar können Offene Hilfen punktuell entlasten, doch das sind einfach nur kurze Verschnaufpausen.
Die entstehende Leere kann gefüllt werden
Wenn erwachsene Kinder von zu Hause ausziehen, entsteht für die Eltern häufig erst einmal eine Leere, die gefüllt werden will. Doch in diesem entstehenden Freiraum eröffnet sich auch wieder viel Platz für die Partnerschaft, die vielleicht lange zurückstecken musste, für die anderen Kinder und vielleicht Enkelkinder, um die man sich kümmern möchte oder für Reisen, für die man jetzt Zeit hat.
Verschiedene Wohnangebote
Mittlerweile gibt es mehr Wohnangebote als früher, welche die individuell notwendige Betreuung anbieten können. Dennoch wissen wir von vielen Eltern aus der Community und aus dem Team, dass es immer noch nicht leicht ist ein passendes Wohnungsangebot in der Region zu finden.
Einen kurzen Überblick über verschiedenen Wohnformen findest Du in unserem Fachbeitrag „Alles rund ums Wohnen“.
Finanzierung
Die Finanzierung wird je nach Wohnart von unterschiedlichen Trägern übernommen. Außerdem erhältst Du unter Umständen weiterhin das Kindergeld, um dein Kind davon entsprechend unterstützen zu können. Auch besteht die Möglichkeit einige Aufwendungen für dein Kind steuerlich geltend zu machen. Des Weiteren können Leistungen der Eingliederungshilfe, Existenzsicherung und Pflegegeld eine finanzielle Entlastung darstellen. Weitere Informationen findest Du in unserem Fachbeitrag zum Thema Wohnen.
Was macht die Entscheidung in der Praxis schwierig?
Im Moment entwickelt sich einiges in diesem Bereich, wodurch die Entscheidung für die richtige Wohnform erschwert ist und eine klare Empfehlung, für die eine oder die andere Lösung nicht pauschal gegeben werden kann. Es gibt mehrere Wege, die beschritten werden können und für jedes Kind ist es ein anderer.
Die theoretisch gegebene Wahlfreiheit bezüglich der Wohnform, beziehungsweise einem Platz in einer Wohneinrichtung wird häufig dadurch erschwert, dass lange Wartezeiten bestehen oder in der gewünschten Umgebung keine passenden Angebote vorhanden sind.
Veränderte Konzeptionen
Früher gab es für Menschen mit Behinderung nicht viele Wahlmöglichkeiten. In vielen Fällen hieß es: Leben im Wohnheim oder zu Hause. Heute verändern die Trägervereine wie Lebenshilfe, Caritas und Diakonie zunehmend ihre Konzeptionen. Wohnheime (Stationäres Wohnen, besondere Wohnform) werden anders gestaltet, es werden Wohngruppen in Wohnhäusern eingerichtet, man sorgt für Unterstützungssysteme, die ein Wohnen alleine ermöglichen sollen und bietet Wohntraining an. Die Angebote verändern sich sehr schnell, sodass Eltern häufig Schwierigkeiten mit dem Abwägen haben, welche Möglichkeit für ihr Kind die richtige ist.
Veränderte finanzielle Rahmenbedingungen und Persönliches Budget
Früher war ebenso klar: Wenn jemand im Wohnheim wohnt, zahlt das der Leistungsträger in der überwiegenden Anzahl der Fälle. Eltern müssen allenfalls eine geringe Zuzahlung leisten. Bei all den neuen Konzeptionen sind finanzielle Entscheidungen zum Teil individuell und regional verschieden.
Zusätzlich gibt es das persönliche Budget. Das ist ein Geldbetrag, den Menschen mit Behinderung abhängig von ihrem individuellen Hilfebedarf in Anspruch nehmen können. Mit diesem kann man eigenverantwortlich Unterstützungsleistungen erkaufen, die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben benötigt werden. So kann man über den Einsatz des Geldes selbst entscheiden.
Verschiedene Finanzierungsformen und Fragen wie „Wo stelle ich welchen Antrag?“, „Woran muss ich denken?“ erschwert zwar die Auswahl, trotzdem gilt aber, dass die Finanzierung in vielen Fällen gesichert ist.
Wer bietet was an?
Um überhaupt eine Wahl zu haben, über die man nachdenken kann, ist das Angebot vor Ort ein entscheidendes Kriterium. Wo kannst Du näheres darüber erfahren?
- Frage direkt bei den Trägervereinen der Behindertenhilfe in deiner Umgebung nach, welche Angebote es dort gibt. Das sind zum Beispiel Lebenshilfe, Caritas, Diakonie oder Mitgliedsvereine des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.
- Frage die Fachkräfte in den Einrichtungen, zu denen dein Kind bereits Kontakt hat. Diese sind meist sehr gut über die Möglichkeiten in der Region informiert.
- Frage bei deinem örtlichen Behindertenbeauftragten, ob es eine Übersicht über Wohnangebote für Menschen mit Behinderung gibt.
- Beratung bei der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB)
Wie haben andere Eltern den Prozess erlebt?
In diesem Beitrag beschreibt unsere Moderatorin Inge, wie sie den Auszug ihrer Tochter in eine WG erlebt hat.
Unser Interview zum Thema Wohnen auf YouTube mit Marco Hörmeyer: Alle Eltern stehen früher oder später vor der Entscheidung, wo die Tochter oder der Sohn mit Behinderung in Zukunft leben kann/leben möchte. Dabei stellen sich den meisten viele Fragen: Wo kann mein Kind wohnen? Welche Angebote gibt es? Wie kann ich meinem Kind die Lebensqualität ermöglichen, die ich mir für es wünsche? Wie kann das funktionieren? Wo ist ein Platz frei?
Weiterführende Informationen
- Auf der Seite WOHN:SINN findest Du viele Informationen rund um das Thema inklusives Wohnen. Diese bieten auch Informationsveranstaltungen an und Du findest eine Übersicht über aktuelle Wohnprojekte.
- Die Doku "Selbstbestimmt und inklusiv: Wie geht besser wohnen?" auf dem YouTube-Kanal des Bayerischen Rundfunks
- Artikel zum Thema Selbstständigkeit aus Sicht eines Mannes mit Behinderung auf der Seite peter-radtke.de
- Buch von Doro May: „Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede – Meine besondere Tochter ist erwachsen“
- Das Wohnprojekt IWoK – Inklusives Wohnen mit komplexer Behinderung. Bei Fragen dazu kannst Du dich auch an die Community wenden.
Quellenverzeichnis
- https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/wp/klauss/Abloesung.pdf